Vergangene Woche hatte ich eine Diskussion mit meiner Mitbewohnerin. Sie ist Slowakin, hat in mehreren Ländern gelebt, spricht sieben Sprachen und ist viel in der Welt herumgekommen. Ich fragte sie um ihre Meinung zu den Unterschieden zwischen ihrer Herkunft und der deutschen Kultur. Sie reagierte sehr heftig, denn ihrer Meinung nach sollte man nicht die Unterschiede zwischen den verschiedenen Kulturen thematisieren. Sie findet, dass es stattdessen weltweit darum gehen sollte, dass wir alle auf die (gemeinsame) Ethik und Moral schauen – dann würden sich Kulturunterschiede von selbst auflösen.
Ich wünsche mir das theoretisch auch. Aber…..
Bei dem Thema „Ethik und Moral“ geht es ja schon los: Was unter ethischem und moralischem Handeln verstanden wird, ist weltweit sehr unterschiedlich. Ein Beispiel: In vielen arabischen Ländern ist die Viel-Ehe für den Mann erlaubt, Homosexualität jedoch verboten. In den meisten anderen Kulturen auf der Welt ist es andersherum.
Oder: In sogenannten „kollektivistischen“ Ländern (in Afrika, Asien, Lateinamerika und Südeuropa) spielt die Großfamilie die wichtigste Rolle im Leben. Menschen aus so einer Kultur finden es unmoralisch, wenn man die eigene Mutter oder den Vater in einem Altersheim unterbringt. Dies ist in sogenannten „individualistischen“ Kulturen wie der deutschen nicht verwerflich, solange die Unterbringung gut ist.
In kollektivistischen Kulturen bleiben alte Menschen normalerweise bis zu ihrem Tod im Kreis der Familie. In vielen dieser Länder hat sich in den letzten Jahren einiges geändert und manche kollektivistische Kultur hat sich auf den Weg zu mehr Individualismus gemacht. Teilweise sehr bereitwillig, wie einige der wirtschaftlich erfolgreichen asiatischen „Kleinen Tiger“. Andere weniger bereitwillig, so wie Spanien. Im kollektivistischen Spanien kam es unter anderem durch die Finanzkrise 2008 zur Veränderung von traditionellen Strukturen. Die Krise schlug in Spanien wesentlich stärker zu als z.B. in Deutschland (die Gründe dafür habe ich in dem letzten Beitrag beschrieben). Dies führte dazu, dass die Arbeitslosigkeit in Spanien vor allem unter der jungen Bevölkerung stark anstieg. In der Folge gingen viele junge Leute ins Ausland, vor allem nach Deutschland. Daneben gibt es schon länger Tendenzen zur Landflucht – die junge Generation möchte nicht mehr auf dem Land leben. Dennoch wohnen in Spanien auch heute noch viele Ältere mit ihren Familien zusammen (das ist auch eine mögliche Erklärung für die höhere Corona-Infiziertenrate und Todesfälle). Lediglich Menschen, die keine Familie haben, gehen in ein Altersheim. Da diese Einrichtungen (noch) eher „unüblich“ sind und aus anderen Gründen (die hier beschrieben werden: http://www.sueddeutsche.de/panorama/coronavirus-spanien-altenheime-1.4855906), ist der Standard häufig schlecht. Der Fall eines Altersheims in Madrid, wo innerhalb weniger Tage mehr als 20 der Bewohner an den Folgen der Ansteckung durch den Coronavirus gestorben seien, ging durch die weltweiten Medien. In Deutschland empören wir uns darüber, dass der Umgang mit den Betroffenen nicht menschenwürdig gewesen sei. Spanier empfinden vor allem Mitgefühl, dass diese Personen alleine sterben mussten.
Ein weiteres Beispiel: Menschen aus individualistischen Kulturen sind stark durch Werte wie Demokratie und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte geprägt. Daher finden wir manche Situation unmoralisch und unethisch, die in anders geprägten Ländern völlig anders gesehen werden: In dem stark kollektivistisch geprägten Indien sind Kastenunterschiede heute noch von einer Mehrheit der Gesellschaft akzeptiert – sowohl von Mitgliedern der untersten Kaste (den Dalits, den Unberührbaren) und von den oberen Kasten sowieso. Für uns Nordeuropäer ist es unmoralisch und ethisch verwerflich, wenn zum Beispiel der tagtägliche Job einer Dalit-Frau darin besteht, Latrinen von Menschen der Oberschicht mit bloßen Händen zu säubern und den menschlichen Kot in Körben wegzutragen. 15 Latrinen pro Tag für monatlich 375 Rupien (etwas mehr als sechs US-Dollar).
Und noch ein Beispiel: Man stelle sich vor, man fährt mit einem geliebten Menschen (Vater, Mutter, Bruder, Schwester,…) im Auto. Diese Person verursacht durch zu schnelles Fahren in der 30er Zone einen Unfall udn ist eindeutig schuld daran, dass ein assant schwer verletzt wird. Wie gehen die meisten Deutschen wahrscheinlich damit um? … Wir sind eine sogenannte universalistische Kultur, das bedeutet, das wir der Meinung sind, dass Gesetze und Regeln für alle gelten udn sich unser geliebter Mensch deshalb für sein (falsche) Verhalten verantworten muss – das ist gerecht! Eine Person aus Russland sieht das ganz anders. Man nennt dies Partikularismus: Geliebte Menschen müssen unter allen Umständen geschützt werden, egal, ob dafür gelogen oder betrogen werden muss. Ihre Sicht auf unsere Kultur ist: „Wie kann man jemandem vertrauen, der nicht einmal seine Familie beschützt?“. Ich finde, hier kommt besonders gut heraus, wie unvereinbar manche Standpunkte miteinander sind.
Und noch weitere Beispiele, wo sich Menschen aus verschiedenen Kulturen beim Thema „Ethik und Moral“ grundsätzlich unterscheiden. Das Wichtigste vorweg: In keinem Fall soll hier gesagt werden, dass die eine Kultur „besser“ als eine andere ist. Jeder Mensch findet erst einmal seine Kultur „normal und richtig“ und damit die anderen als „unnormal und falsch“. Es gibt allerdings Situationen, wo die eine Kultur vielleicht „besser“ vorbereitet ist als eine andere im Umgang mit Krisen und unvorhersehbaren Ereignissen. In der Corona-Krise hat sich beispielsweise die deutsche „Sach-Orientierung“ als vorteilhaft erwiesen. Schon früh wurden von den Politikern vor allem Experten zu Rate gezogen. Unter anderem etablierte sich der Virologe Prof. Dr. Christian Drosten als Corona-Experte, der die Bevölkerung regelmäßig fundiert informiert. Spanien ist „Beziehungs-orientiert“, da kommt jemand, der so trocken, sachlich, nüchtern und nicht-lächelnd kommuniziert wie Herr Drosten, nicht so gut an (was seine profunde Fachkenntnis hier nicht schmälern soll). Es wird keine „Beziehung“ aufgebaut. Natürlich gibt es auch noch ganz andere Gründe, warum Deutschland im Vergleich bei den Corona-Zahlen besser dasteht als Spanien. Wie oben beschrieben, schlug die Finanzkrise in Spanien härter zu und dadurch wurde in den letzten Jahren stark im Gesundheitssystem gespart. es gibt auch gravierende Unterschiede im Werteverständnis, wie solidarisch sich nun die EU gegenüber den „schwächeren“ Mitgliedern verhalten sollte.
Man kann leider die Werte der einen Kultur nicht so einfach übernehmen. Bis sich neue Werte in einer Kultur verinnerlicht haben, vergehen Jahre oder sogar Jahrzehnte. Manchmal geht es schneller, wenn zum Beispiel gravierende Einschnitte passieren wie Kriege, Aufstände oder Naturkatastrophen, die massive gesellschaftliche Umwälzungen erfordern oder einfordern. Für den Ausbruch des „Arabischen Frühlings“ war der Demokratiewunsch und das Aufbegehren gegen traditionelle Werte von Teilen der jeweiligen Bevölkerung massgeblich.
„Ethik und Moral“ geht aber auch schon im Kleinen los. Jeder kennt die spanische Mentalität, dass bei einem gemeinsamen Essen im Restaurant einer für alle zahlt, statt -wie in Deutschland üblich- jeder für sich. In Deutschland steht hinter unserer Art des Bezahlen der Wert „Gerechtigkeit“, denn wenn jeder das zahlt, was er verzehrt hatte, geht es gerecht zu. In Spanien steht hinter dem Wunsch, für alle zu bezahlen, die „Beziehungs-Orientierung“. Die Beziehung wird dadurch gestärkt: heute bezahle ich, das nächste Mal Du. Das verbindet und bedeutet, dass man sich auf jeden Fall wieder sieht. Vertrauen ist ein weiterer damit verbundener Wert.
Auch das, was wir in Spanien als Klüngel, Vetternwirtschaft oder Korruption moralisch anprangern, wird von Spaniern unter Umständen ganz anders gewertet. Denn hier geht es um Aufbau von Beziehungen. Wenn man zu jemandem eine gute Beziehung aufgebaut hat, kann man diesem Menschen vertrauen und ist damit auch lieber bereit, Geschäfte mit dieser Person und nicht mit einem Fremden zu machen. Besonders ausgeprägt ist diese Art auf Mallorca (und übrigens in vielen Inselkulturen). Denn hier haben die Mallorquiner so viele Eroberer und Menschen kommen und gehen sehen, die alle irgendein Interesse an der Insel hatten, dass die einheimische Bevölkerung sehr zusammen hält und sich nach außen abgrenzt. „Vitamin B“ oder „sich miteinander verbinden“ (enchufarse) sind verbreitete Begriffe.
Meine Mitbewohnerin und ich sind uns nicht einig geworden. Bis die Weltgesellschaft in einem Stadium ist, welches ihr vorschwebt, werde ich weiterhin versuchen, Verständnis für andere Kulturen zu fördern.
Zum Weiterlesen bieten sich folgende Bücher und Hefte an:
Reihe „Sympathiemagazine“ (Studienkreis für Tourismus), von Ägypten bis Vietnam: https://www.sympathiemagazin.de/produktuebersicht.html
Reihe „Kulturschock“ (aus dem ReiseKnowHow-Verlag), von Afghanistan bis Vietnam: https://www.reise-know-how.de/shop/produktreihe/kulturschock-6/produkttyp/Book
„Gebrauchsanweisung für …“ (aus dem Piper-Verlag), viele Städte, Regionen und Länder, von Alaska bis Zürich: https://www.piper.de/buecher/reiseberichte/gebrauchsanweisung
„Oh, diese …“ (aus dem Conrad-Stein-Verlag): über Briten, Schotten, Schweden, Italiener, etc. Von mir ist in dieser Reihe erschienen: „Oh, diese Mallorquiner“: https://www.conrad-stein-verlag.de/produkt-kategorie/aktivitaeten-themen/kultur-und-sprache/
Die Reihe „Fremdenversteher (aus dem ReiseKnowHow-Verlag) empfehle ich nicht; diese bedienen häufig Klischees und Vorurteile. Ein paar Beispiele: „Jeder, der versucht, die Spanier zu verstehen, muss zuallererst erkennen, dass sie nichts für wichtig erachten, außer das absolute Vergnügen.“, „… dass sie ständig ihre Meinung ändern…“, „…Planung spielt in ihrem Leben keine Rolle. … Unberechenbarkeit…“, „… Zeit … ist bedeutungslos…“, „….Fehlende Rücksicht….“.
Internetquellen:
Das Länderportal bietet viele spannende Infos, vor allem zu Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika: http://www.liportal.de
Die Bundeszentrale für politische Bildung bietet Hintergründe zu diversen Ländern und Kulturen: http://www.bpb.de
Das Auswärtige Amt, z.B. Spanien: https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/spanien-node