Corona-Krise hier und anderswo

Es soll in diesem Beitrag darum gehen, ob und wie Menschen in Spanien, Deutschland und anderen Ländern unterschiedlich mit der Corona-Krise umgehen. Dirk Ziems vom „Institut Concept M.“ geht davon aus, dass Menschen weltweit zunächst grundsätzlich relativ ähnliche Emotionen zeigen: Unsicherheit, Angst, Depression, Panik,… Das liegt an Folgendem:

Wenn man sich einen einzelnen Menschen wie eine Pyramide vorstellt, gibt es auf der untersten Ebene „Die menschliche Natur“ – quasi unsere Basis. Hier sind wir alle gleich (egal ob wir aus Deutschland, Spanien oder Burkina Faso stammen). Es geht um angeborene menschliche Fähigkeiten/Emotionen wie Angst, Zorn, Liebe, Freude oder Traurigkeit. Diese gibt es überall auf der Welt. Wie wir aber mit diesen Fähigkeiten/ Emotionen umgehen, haben wir durch unsere kulturelle Prägung gelernt, das ist unsere „Kultur“. Wut wird zum Beispiel in asiatischen Kulturen nicht gezeigt, man verliert so sein Gesicht. Auch wie man Liebe oder Freude ausdrückt, ist in den verschiedenen Ländern unterschiedlich. Die „Persönlichkeit“ wiederum basiert auf Charakterzügen, die teilweise ererbt und teilweise erlernt sind. Ein/e Deutsche/r kann also ganz anders sein als die „deutsche Kultur“ ist.

Es gibt im Umgang mit der Corona-Krise viele Ähnlichkeiten, da diese Krise an unseren Grundfesten (der menschlichen Natur) rüttelt, … sie macht uns zum Beispiel Angst.

Dirk Ziems hat die Corona-Krise in 5 Phasen eingeteilt, die weltweit überall gleich ablaufen.
Die 5 Phasen sind:
1.) Inkubation: Zunächst war die Krise noch weit weg und die Menschen schwankten zwischen Erregung und Bagatellisierung.
2.) Panik und Agieren: Durch das Näherkommen der Krise schlug die Reaktion in Angst und Kampf-Flucht-Reflexe um. Um damit klarzukommen, reagieren viele Menschen mit Aktionismus, z.B. Hamsterkäufen, Zwängen oder Aktienkauf. Oder aber sie reagieren ganz anders und versinken in Apathie, um die Panik zu unterdrücken.
3.) Isolation und Depression: In fast allen Ländern der Welt (außer Schweden) haben die Regierungen Maßnahmen zur sozialen Distanzierung eingeführt. So gelang es, die Infektion zumindest zu verlangsamen. Hier zeigen sich gemischte Reaktionen in den unterschiedlichen Ländern (dazu gleich mehr).
4.) Neubesinnung: Diese Phase bietet unerwartete Freiräume und neue Perspektiven. Familien rücken enger zusammen. Viele nutzen die Zwangspause für liegengebliebene Projekte oder das Überdenken der eigenen (Geschäfts-)Strategie.
5.) Normalisierung: Bisher gibt es dazu noch keine Erfahrungen, außer in China. Trotz einiger Schwierigkeiten zur Rückkehr zum „normalen“ Leben, herrscht in der chinesischen Gesellschaft die Erleichterung vor.

Phase 1: Inkubation
In dieser Phase kamen und kommen die einzelnen Menschen noch nicht in Bewegung. Sie warten ab, wie sich die Situation entwickelt. Man schaut, wie die Regierung reagiert, was in anderen Teilen der Welt passiert und versucht, sich zu informieren…. In dieser Phase sind es mehr die Regierungen, die (sehr unterschiedlich) reagieren. Es besteht dabei vor allem ein Unterschied, wie und welche Informationen an die Bevölkerung weitergeleitet werden. Rigide Systeme (wie das chinesische) betreiben bewusst Desinformation. Der Tagesspiegel schrieb am 30.1.20: „Dass das Coronavirus sich inzwischen weltweit ausbreitet, liegt auch an Chinas fataler Informationspolitik, die nur ein Überleben sicher soll: das der Partei.“. In Nordkorea ist (kaum verwunderlich) bislang kein einziger Corona-Fall gemeldet worden. Am 10.4.20 meint der Spiegel: „ Es gibt … eine Reihe weiterer Staaten, die durch eine absurde Informationspolitik auffallen. Vielleicht, weil die Regenten dort gravierende Mängel im Gesundheitssystem kaschieren wollen. Oder um der eigenen Bevölkerung Stärke zu signalisieren. Oder aus Gewohnheit“.

In Taiwan wurde beispielsweise sehr früh reagiert: Mit einem Krisenzentrum, Kontrollen unter den Einreisenden aus China und deren Isolation im positiven Testfall. Auch wurden die Grenzen zu China schon früh geschlossen. So waren daher bereits Ende Februar 30.000 „Verdachtsfälle“ in Isolation und die Ausbreitung konnte eingedämmt werden. In Südkorea wurde und wird staatliche Überwachung per Wärmebildkameras, Videokameras und Handy-Apps praktiziert. Die Apps werden zum Beispiel bei Menschen in Quarantäne eingesetzt und kontrollieren, ob diese auch wirklich zuhause bleiben. Solche Maßnahmen wären wohl kaum in Deutschland durchsetzbar. Dies liegt an der unterschiedlichen „Macht-Distanz“ (eine der Dimensionen aus der Interkulturelle Kommunikations-Forschung). Es gibt Länder, wo die Gesellschaft einen eklatanten Unterschied akzeptiert zwischen denjenigen, die Macht ausüben, und denjenigen, die keinerlei Macht haben (die Länder mit der höchsten Macht-Distanz sind: Japan, Guatemala, aber auch Russland, Rumänien und China). In diesen Ländern werden Maßnahmen der Regierung von der Mehrheit der Gesellschaft nicht in Frage gestellt oder es wird nicht gewagt, diese öffentlich in Frage zu stellen. Dies betrifft zum Beispiel auch die Pressefreiheit: In Rumänien verboten die Behörden aufgrund von Notstandsregelungen ein Nachrichtenportal, weil es mehrfach „falsche Nachrichten“ zur Corona-Krise verbreitet habe. In Honduras hat Präsident Juan Orlando Hernández den Verfassungsartikel zur Pressefreiheit außer Kraft gesetzt. In Armenien dürfen Journalistinnen und Journalisten im Zuge des Ausnahmezustands nur noch amtliche Informationen zur Corona-Krise veröffentlichen (Reporter ohne Grenzen: ROP).

In Ländern mit niedriger Machtdistanz hingegen, wie Deutschland, würden die Leute aufbegehren gegen eine Einschränkung ihrer persönlichen Freiheiten. Hinzu kommen Bedenken bezüglich Datenschutz, wie die Diskussion der vergangenen Wochen um die „Handy-App zur schnellen Kontaktnachverfolgung von Infizierten“ zeigt.

Phase 2: Panik und Agieren
Anfang bis Mitte März befanden sich viele europäische Länder in dieser Phase. Während die erste Phase noch durch Abwarten geprägt war, wurde hier nun von den einzelnen Menschen gehandelt. Besonders die Hamsterkäufe sind symptomatisch für diese Phase. Es gibt mehr oder weniger lustige Klischees (aber auch belegte Quellen), was in den verschiedenen Ländern hamstergekauft wurde: In Deutschland Klopapier, Konserven und Desinfektionsmittel, in Frankreich oder Spanien Rotwein und Kondome, in asiatischen Ländern Atemmasken, sowie in den USA Waffen. In den Niederlanden bildeten sich lange Schlangen vor den Coffee-Shops.

Die Diplom-Psychologin Ines Imdahl erklärt (auf http://www.horizont.net) das deutsche Klopapier-Symptom so: Deutschland sei eine Kultur, die immer stolz auf ihre Produktionsleistung war. Seit Corona produzieren wir quasi nichts mehr. Durch diese „Produktionslosigkeit“ besinnt sich das Seelische dann unbewusst worauf…..? Ich glaube allerdings eher daran, dass es an der deutschen „Langfrist- und Zukunfts-Orientierung“ liegt. Dies hat seine Gründe in der weit zurückliegenden Vergangenheit: Deutsche (und andere Kulturen in gemäßigten Klimazonen) mussten sich eine Plan-Mentalität antrainieren, da es nur einmal im Jahr eine Ernte gab und mit dieser musste man das ganze Jahr auskommen. So entwickelte sich eine Vorratshaltung, … die Anfänge von Projektmanagement. In anderen Ländern wie Spanien gibt es bis zu drei Ernten im Jahr, da erübrigt sich die Notwendigkeit von langfristiger Planung. Die „Zukunfts-Orientierung“ hat zudem die Ausprägung, dass wir Deutschen wissen wollen, wie unsere Zukunft aussieht. Versicherungen werden abgeschlossen, Rentenpläne geschmiedet und eben … Klopapier gehortet. Ich verwende in meinen Vorlesungen zur Illustration dieser Dimension schon seit Jahren ein Foto von einer Toilette, die eingerahmt ist von Regalen voll mit Klopapier. Wenn ich meine internationalen Studenten frage, was dieses Foto für sie symbolisiert, sind viele überfragt, weil sie aus Kulturen mit einer anderen Orientierung kommen. Die meisten meiner Studenten kommen aus „Vergangenheits-orientierten“ Ländern wie Indien und China.

Franzosen und Spanier sind „Gegenwarts-orientiert“ wie fast alle afrikanischen, lateinamerikanischen und südeuropäischen Länder. Das bedeutet, dass die Menschen im „Hier und Jetzt“ leben. Wir Deutschen finden das im Urlaub super, in der langfristigen Zusammenarbeit wird es dann allerdings für unsereins oft mühsam. Jede Kultur hat ihre „Vor- und Nachteile“. Die Zukunfts-Orientierung hat zur Konsequenz, dass in Deutschland zum Beispiel Burnout, Depressionen und Tinnitus verbreiteter sind, weil wir uns mehr „Sorgen um die Zukunft“ machen. Die Kurzfrist-und Gegenwarts-Orientierung der Spanier sorgte allerdings dafür, dass sich die Wirtschafts- und Finanzkrise wesentlich stärker in Spanien niederschlug. Die Gesellschaft hier plant nicht so weit im Voraus, es ist nicht „vorgesehen“, dass man arbeitslos werden könnte und dann die Hypothek nicht mehr bezahlen kann. So verloren seit 2008 viele Spanier Haus und Hof. 2014 lag die Arbeitslosenquote in Spanien bei 25 %, was dazu führte, dass grade junge Menschen ihre Heimat verliessen, vorzugsweise nach Deutschland.… Man würde sich wünschen, dass sich jede Kultur sich jeweils von den anderen Kulturen etwas abgucken würde, dann würden wir Deutschen etwas entspannter und andere Kulturen würden bei Krisen nicht ins Bodenlose rutschen, wie womöglich nach der Corona-Krise Italien und Spanien. Dass sich Spanier im Kleinen von der deutschen Zukunfts-Orientierung schon etwas abgeschaut haben, kann ich dadurch belegen, dass auch hier in den Supermärkten zwischendurch Klopapier ausverkauft war. Nichtsdestotrotz sorgt die Kurzfrist-Orientierung dafür, dass man in Spanien mehr für die Gegenwart hamstert. Hier war zwischendurch vor allem Frisch-Fleisch in jeglicher Form Mangelware.

Für die starken Waffenkäufe in den USA hat Diplom-Psychologin Ines Imdahl folgende Erklärung: „Schickt der französische Präsident nun sein Volk „symbolisch“ zu den Waffen, greifen die Amerikaner im wahrsten Sinne des Wortes dazu. Für die Amerikaner ist es typisch – im Kampf gegen das Virus greifen sie zu dem aus ihrer Sicht Naheliegendem: Sie rüsten auf, bewaffnen sich, um ihr Haus und Hof gegen den “ausländischen“ Eindringling, der dieser Virus ja laut Trump ist, zu verteidigen.“ Und in einem Artikel der Deutschen Welle wird ein Waffenverkäufer so zitiert: „Sie haben Angst, dass die Polizei zu viel anderes zu tun hat und fühlen sich gezwungen, die Sache in die eigene Hand zu nehmen“. Die Corona-Krise offenbare auf diese Weise, wie groß die Vertrauenslücken gegenüber dem Staat seien. Der Hintergrund für dieses Verhalten ist die Dimension „Individualitäts-Index“. Die USA sind das individualistischste Land der Welt: Jeder ist (nur) für sich selber verantwortlich. Im Positiven bedeutet es, dass man vom Tellerwäscher zum Millionär werden kann. Im Negativen, dass man sich selbst verteidigen muss.

Das Gegenstück zum Individualismus nennt sich Kollektivismus: In solchen Ländern sind die Menschen in Gruppen (meist die Familie, das kann aber aber auch ein Klan sein, oder in afrikanischen Ländern ein ganzes Dorf) eingebunden, dies sind „Wir-Kulturen“. Jeder Mensch ist für seine Gruppe verantwortlich, bekommt dafür aber auch Schutz und Hilfe von dieser. Die Mehrheit der Menschheit lebt (noch) in kollektivistischen Kulturen. Es hängt stark mit der Gegenwarts-Orientierung zusammen und so sind auch hier fast alle afrikanischen, asiatischen, lateinamerikanischen und südeuropäischen Länder kollektivistisch. Hier in Spanien versteht man unter „Familie“ deutlich mehr Personen als in Deutschland: Cousins, Cousinen, Großtanten und -onkels, etc. gehören zur „Kernfamilie“, bis zu 100 Personen können das sein. In der spanischen Gesellschaft ist es noch weitgehend üblich, dass man am Wochenende irgendeine Familienfeier oder -verpflichtung hat…. In der Corona-Krise sorgt das meiner Meinung nach auch dafür, dass die Panik nicht so groß ist wie in Deutschland. Die Menschen haben viel mehr Austausch unter ihrem bekannten Umfeld und sind nicht so vereinzelt. Selbst wenn die Familien nicht mehr unter einem Dach wohnen, telefoniert man oft mehrmals am Tag miteinander. Da bleibt gar nicht so viel Zeit, sich Sorgen zu machen.

Phase 3: Isolierung und Depression
Die Art der Isolierung variiert von Land zu Land. In Spanien herrscht seit dem 14. März und noch mindestens bis 26. April strikte Ausgangssperre, die Restriktionen gehören zu den strengsten in der westlichen Welt! Man darf das Haus nur verlassen für: Besorgungen von Lebensmitteln (es wird einmal pro Woche empfohlen), ärztliche Termine oder für den Gang zur Apotheke. Hundebesitzer geniessen eine Ausnahme und manche „verleihen“ ihre Hunde schon an Freunde und Nachbarn. Die polizeilichen Kontrollen sind überaus streng und fadenscheinige Erklärungen werden nicht akzeptiert. Ein mallorquinischer Freund wurde mit dem Auto angehalten und sagte, er würde vom Supermarkt kommen. Als die Polizisten ihm sagten, dass das nicht stimmen würde (anscheinend waren sie hinter ihm hergefahren), gab er kleinlaut bei und hatte Glück keine „multa“ (Strafe) zu bekommen; diese gehen bei 600 Euro los. Eine Freundin war zu einem Spaziergang unterwegs und hatte sich als Erklärung ausgedacht, dass sie den Müll weggebracht hätte. Den Polizisten war die Entfernung zu ihrer Wohnung zu groß und sie machten sehr deutlich, dass sie nicht mit ihr diskutieren würden… Man ist angehalten, den Personalausweis mitzuführen und wenn man Einkäufe tätigt, den Bon mitzunehmen. Auf diesem ist die Uhrzeit vermerkt, denn es gab Fälle, wo Manche den ganzen Tag ihren Einkauf spazieren trugen. Bis heute, 12. April, kann ich auf jeden Fall für meinen Stadtteil in Palma sagen, dass sich die Menschen fast alle an die Ausgangssperre halten. Die Strassen sind wie leergefegt. Dass die Menschen hier in Spanien wenig gegen die Maßnahmen aufbegehren, liegt meiner Meinung nach an verschiedenen Dimensionen. Zum einen ist die oben beschriebene „Macht-Distanz“ hier (57 von 100 Punkten) höher als beispielsweise in Deutschland (35 von 100 Punkten). Das bedeutet, dass Spanier eher als wir Deutschen akzeptieren, dass ein Machtgefälle herrscht. Polizisten sind hier Autoritätspersonen. Dies machen sie im Zweifel auch schnell klar. Wer nicht spurt, wird erstmal verhaftet (ich übertreibe ein bisschen…).

Ein anderer Grund ist der Kollektivismus. Die Menschen in kollektivistischen Gesellschaften fühlen sich verbundener. Man versteht sich als „Wir“. „Wir schaffen das“ liest man von manchem Transparent von den Balkonen wehen. „Wir“ müssen da jetzt gemeinsam durch. Der schöne Bericht über „Helden in Spanien“ vom Weltspiegel zeigt einen Fischhändler, der sagt: „Wir sind hier im Viertel wie eine Familie“ ( Weltspiegel ). In diesem Beitrag ist auch ein Video aus Mallorca zu sehen (ab min. 3:12): Die Polizei von Algaida, die durch die sozialen Medien weltberühmt geworden ist. Eine Polizei-Einheit -angerückt mit mehreren Streifenwagen- springt in einer Dorfstrasse aus den Autos und fängt an, auf der Straße ein mallorquinisches Kinderlied zu singen. Einer der Polizisten spielt Gitarre und singt, die anderen singen mit und tanzen. Damit wollen sie den Kindern Mut machen und für Abwechslung sorgen. In mehreren Orten wie in Pollença und Port de Sóller kann man bei der Polizei anrufen, wenn ein Kind Geburtstag hat, dann kommt eine Streife angefahren und bringt ein Ständchen. Oder in Palma: dort fährt (ebenso wie in Madrid) ab und an eine Polizei-Einheit mit mehreren Wagen vor das staatliche Krankenhaus Son Espases und applaudiert dem medizinischen Personal. Die stehen wiederum Spalier in Ganzkörper-Schutzanzügen und revanchieren sich mit dem Song „Resistiré“ (Ich werde standhalten). Obwohl die spanische (und auch die mallorquinische) Polizei wie oben beschrieben sehr autoritär ist, zeigt sie so Solidarität und Bürgernähe – das ist kein Widerspruch in der spanischen Gesellschaft: Solange man sich an die Spielregeln hält, bekommt man Solidarität und Unterstützung; wer ausschert, kriegt Saures.

Sehr schön ist auch die allabendliche Aktion des Klatschens von den Balkonen, um Ärzten und Pflegekräften „Danke“ zu sagen. Dies ging am ersten Tag der Ausgangssperre los! Ich war ohne Ausnahme jeden Abend dabei. Hier in meinem Viertel kann man es nicht verpassen, weil Punkt 20 Uhr diverse Schiffssirenen lautstark ansetzen und nach und nach die Menschen auf die Balkone strömen. Soeben habe ich bei einem Freund, der auf seinem Schiff im Hafen wohnt (Luftlinie ca 1 Km von mir), nachgefragt, ob die lauteste Sirene von ihm kommt, denn das war die grobe Richtung. Es ist allerdings eine 70 Meter Luxusyacht, die neben ihm liegt.… In Italien hat sich sehr früh das Singen auf den Balkonen etabliert, um Solidarität untereinander zu signalisieren. In Deutschland haben in einigen Städten ähnliche Aktionen begonnen. Vorreiterin ist die Stadt Köln und dort insbesondere die Viertel Ehrenfeld, Agnesviertel und Südstadt, was nicht verwundert – ist Köln doch schon immer ein bisschen anders gewesen. Die kölsche Mentalität wird oft als eher südländisch bezeichnet. Aus einem der bekanntesten Karnevalslieder: „ … unser Veedel,… denn he hält m’r zosamme…“. Leider gibt es allerdings in Deutschland auch Aussagen wie diese, die in den letzten Tagen die Runde machten: „ Schluss damit (mit dem Applaus), fordert ein Pfleger, der stattdessen Unterstützung für die Forderung nach besserer Bezahlung verlangt“ oder „Berliner Krankenpflegerin klagt an: „Euren Applaus könnt ihr euch sonstwohin stecken“.“. Wer mich kennt, weiß, dass ich natürlich der Meinung bin, dass Krankenschwestern und Pflegepersonal (und viele andere Berufe auch wie Erzieherinnen, Hebammen, Reinigungskräfte, Verkäufer,…) schlecht bezahlt sind. Aber das Eine (solidarisch die Menschen, die für unser System grade überlebenswichtig sind, jetzt zu unterstützen) und das Andere (bessere Löhne einzufordern, insbesondere nach der Krise) sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Solche Aussagen habe ich hier in Spanien noch nicht gehört und eine Freundin und ich haben verschiedene Einheimische gefragt, ob sie sich solche Aussagen hier vorstellen könnten; die einhellige Antwort lautete: „Nein“.

Phase 4: Neubesinnung – unerwartete Freiräume und neue Perspektiven
Die unfreiwillige Auszeit vom bisherigen sozialen Alltagsbetrieb bietet in allen Ländern neue Freiräume und Spielräume. Die Ruhe und Entschleunigung in den eigenen vier Wänden empfinden viele Menschen als wohltuend (wenngleich auch nicht verschwiegen werden darf, dass in manchen Familien Konflikte durch die erzwungene Nähe nun ausarten, die häusliche Gewalt nimmt zu). Viele Familien rücken enger zusammen. Dieter Ziems sagt: „Aus China wird berichtet, dass man in der erzwungenen Home-Office-Situation erstmals eine neue Selbstständigkeit gegenüber seinem Arbeitgeber einübt. Während man bislang im Großraumbüro daran gewöhnt ist, dass der Chef alle halbe Stunde über die Schulter guckt, übernimmt man jetzt die Verantwortung für den eigenen Arbeitsfortschritt“. Hier könnte vielleicht ein Schritt weg von der hohen Machtdistanz in China entstehen.

Während hier in Spanien wie beschrieben strikte Ausgangssperre herrscht, sind die Maßnahmen zur sozialen Distanzierung in Deutschland etwas weicher (wenn auch von von Bundesland zu Bundesland verschieden). Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hält sich wohl an die Vorschriften der Ausgangsbeschränkung. In dieser Phase wird nun jedoch zunehmend diskutiert. Die Einschränkungen der persönlichen Freiheiten und des öffentlichen Lebens in der Corona-Krise gehen manchem Bürger, Journalisten oder Juristen zu weit. Das bekomme ich selber im eigenen Umfeld, vor allem in den sozialen Medien, mit. Dort schreiben „Freunde“ von mir (Freunde steht hier deswegen in Anführungsstrichen, weil diese auf Facebook so heissen, ich selber habe allerdings eine andere Definition von Freundschaft): „Unsere Freiheit haben wir ja schon verloren- die, die Aufbäumen werden „ bestraft“!“, „Aus Journalisten werden Hofberichterstatter“, usw. Es soll hier nicht um eine inhaltliche Diskussion um die Beschränkung der persönlichen Freizügigkeit gehen (das mache ich gerne im persönlichen Austausch). Hier geht es unter dem Thema dieses Artikels einerseits wieder um die oben beschriebene Machtdistanz sowie den Individualismus: In individualistischen Ländern mit geringerer Machtdistanz wie Deutschland sind die Menschen eher und schneller bereit, sich selber in den Mittelpunkt zu stellen und (individualistisch) ihre Bedürfnisbefriedigung einzufordern. I

Im Vergleich kommt hier aber noch etwas hinzu, warum in manchen anderen Ländern Massnahmen von Seiten der Regierung möglich sind, die in Deutschland undenkbar wären: der Umgang mit Unsicherheitsvermeidung. In Ländern wie Israel oder Frankreich wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. „Das bedeutet für Israelis zum Beispiel, dass die Geheimdienste sie mit Überwachungstechnologien beobachten, die sonst zur Terrorbekämpfung eingesetzt werden. Das ist mit dem israelischen Recht nicht zu vereinbaren, aber die zuständigen Behörden argumentieren mit der drohenden Gefahr“ (www.netzpolitik.org). In Israel stehen vor allem solche Personen, die bereits mit dem Coronavirus infiziert sind, im Visier des Geheimdienstes Shin Bet und der Polizei. Die Sicherheitsbehörde erfasst per Handyüberwachung, mit wem sie wo, wann und wie lange in den vergangenen 14 Tagen in Kontakt standen (www.daserste.de). Hunderte Menschen protestierten in den vergangenen Tagen auf den Straßen gegen die drastischen Corona-Maßnahmen Netanjahus. (AP). Nichtsdestotrotz: Eine Mehrheit der israelischen Gesellschaft sieht diese Maßnahmen als gerechtfertigt an. Dahinter steht das Mantra „Bitachon“ (Sicherheit). Für das Thema Sicherheit sind viele Israelis bereit, einiges zu opfern. Israel ist eines der Länder mit der höchsten Unsicherheits-Vermeidung weltweit (81 von 100 Punkten). Das bezeichnet den Grad, in dem sich Mitglieder einer Gesellschaft durch ungewisse oder unbekannte Situationen bedroht fühlen. In Gesellschaften mit einer hohen Angst vor Unsicherheit, wünschen sich die Menschen starke Regeln, die Sicherheit bieten. Im Stadtstaat Singapur fühlen sich die Menschen übrigens weltweit am sichersten.

Auch Deutschland hat einen hohen Wert in dieser Dimension (65). Warum Maßnahmen wie in Israel nicht möglich sind, liegt an oben Beschriebenem (Individualismus, geringe Machtdistanz). Aber: Auch „die deutsche Kultur“ mag Regeln. In Bezug auf unser Thema war dazu kürzlich im Spiegel zu lesen, es sei „…zu beobachten, dass die (neuen Distanzierungs-)Regeln für manche Anreiz sind, eine Rolle als Hilfssheriff zu übernehmen. Der Hamburger Soziologe und Polizeiforscher Rafael Behr warnt vor einem negativen Trend. „Die Denunziationsbereitschaft wird ebenso zunehmen wie die Solidarität“, sagte er dem SPIEGEL. „Es kann gut sein, dass eine Art informelle Moralüberwachung entsteht, die sich bereits jetzt schon punktuell zeigt“, so Behr. „Das vergiftet die sozialen Beziehungen und Zivilisationsregeln“. In einem anderen Interview berichtet die Korrespondentin für die New York Times, die in Berlin wohnt (in radioeins) von selbsternannten Kontrolleuren, die sie und andere ansprechen, wenn sie sich nicht „an die Regeln“ halten.

Phase 5: Erholung und Normalisierung – erleichternder Neubeginn
Bisher ist nur in China die Phase der Erholung erreicht. Dieter Ziems: „Nach dem Rückgang der Fallzahlen und der gelungenen Eindämmung der Pandemie kehren die Menschen auf die Straßen zurück und nehmen wieder am Alltagsaustausch teil. Die Wiederherstellung des normalen Betriebs geht nicht reibungslos vonstatten. Geschäftsverbindungen sind unterbrochen, im Lehrstoff der Schule klaffen Lücken. Dennoch herrscht in China aktuell Erleichterung. Das Schlimmste scheint überwunden zu sein. Der Rückweg zur Normalität ist frei.“. Diese „Normalität“ ist jedoch nach wie vor von der oben beschriebenen „Macht-Distanz“ geprägt. Der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen sagt: „In China ist die Krise wie ein Brennglas: Journalisten, die kritisch berichten wollen, müssen in diesen Tagen noch einmal mehr Repressionen befürchten.“. In den ersten Monaten nach Ausbruch der Pandemie sind in China bereits Bürgerjournalisten verschwunden, die kritisch über die Maßnahmen zur Krise berichtet hatten. Dies wird sicherlich jetzt nicht leichter für diejenigen, die nicht über eine „Normalisierung“ berichten wollen.

Für Deutschland rät Psychologe Stephan Grünewald (im Deutschlandfunk): „Ein ganz wichtiger Rat ist – Menschen haben das Gefühl, angesichts der Bedrohung sind Unterschiede gar nicht mehr so wichtig. Das Virus eint alle, vor dem Virus sind alle gleich, und wir leisten im Moment auch alle den gleichen Verzicht, da gibt es kaum Ausnahmen. Das führt einerseits zu einer großen Solidarität, andererseits ist es zwar eine Sehnsucht, dass wir aus diesem Gleichheitsprinzip wieder ausscheren, aber es muss dann ganz klug vermittelt werden, warum die eine Gruppierung Freiheiten genießen kann, die die andere noch nicht da hat. Sonst läuft die Gesellschaft Gefahr, dass aus dieser großen Solidarität, die wir erleben, dass da neue Rivalitäten, neue Eifersüchteleien erwachsen. Von daher: Öffnung schrittweise mit Maß ist wichtig, aber sie muss klug kommuniziert werden, dass jeder weiß, dass das gut für das Ganze ist“.

Zukunft:
Es wird in Zukunft darum gehen, uns zu fragen:

Wollen wir das Konzept des Individualismus weiterhin leben?
Gibt es Beispiele aus anderen Ländern, von denen wir uns etwas abschauen möchten?
Wollen wir (weiter) solidarisch sein?
In was für einer Welt wollen wir überhaupt in Zukunft leben?

Ein sehr schöner Blick „aus der Zukunft zurück“ auf die Corona-Krise kommt von Mathias Horx: Horx – unbedingt lesenswert!

Nachtrag:
Die angesprochenen Dimensionen beziehen sich auf Studien von dem niederländischen Anthropologen Geert Hofstede. Weiter nachzulesen unter http://www.hofstede-insights.com . Generell geht es bei ihm und somit auch in diesem Artikel immer darum, die Mehrheitskultur eines Landes abzubilden. Natürlich gibt es innerhalb einer Gesellschaft immer diverse Ausnahmen.

Deutschlandfunk 11.4.2020: Für die starken Infizierungszahlen in Spanien gibt es übrigens verschiedene Theorien: eine ist die schlechtere medizinisch-technische Ausstattung. Eine andere Erklärung ist der spanische Föderalismus, der dazu fügt, dass die einzelnen autonomen Regionen unterschiedliche Systeme, die nicht vernetzt -, teilweise doppelt sind und damit zuviel Geld kosten. Zudem die immer noch wirksamen Folgen der Wirtschaftskrise von 2007. Aber auch, dass viele ältere Personen noch in den Familien wohnen und sich so leichter anstecken konnten.
Palma, 12.04.2020

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4 Gedanken zu “Corona-Krise hier und anderswo

  1. Hallo Kathrin, Dein Text war das interessanteste, das ich seit Langem zum Thema Covid 19 und dem Umgang damit geselen habe. Danke Dir!
    Übrigens, hier in Berlin-Friedenau klatscht schon lange keiner mehr. Dafür blüht kommt hier im Künstler- und Lietratenviertel die Blockwartmentalität vor.
    Zum ewigen Thema Deutsche und Klopapier habe ich einen schönen Text im Spiegel gefunden. Aber nix Corona, der ist von 1985, hab ich bei FB gepostet, falls es Dich interessiert.

    Viele liebe Grüße
    Judith

    PS: Marlies und ich sind alte Freundinnen, Ihr wart mal zum Kaffee bei mir vor drei Jahren oder so, falls Du Dich fragst, wer ich überhaupt bin.

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    1. Liebe Judith, das weiss ich doch, wer Du bist. Mama fragt mich immer, wenn ich mal in Berlin, ob ich nicht mal bei Dir vorbei schauen will. Aber ich bin dann immer total busy… Nächstes Mal, wenn Mama wieder in Berlin ist, aber auf jeden Fall! … Vielen Dank für Deine lieben Zeilen, das freut mich sehr. Ich habe in den letzten Tagen an dem Text gearbeitet udn er wurde immer länger und länger… Vielen Dank auch für die Infos, den Text schau ich mir gleich an… Viele liebe Grüße sende ich Dir! Kathrin

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