Wer braucht mehr Platz und Abstand zu Anderen: Menschen, die in der Stadt leben oder solche auf dem Land? Ich frage das meine Studenten gerne. Mindestens die Hälfte antwortet in der Regel: „Menschen in der Stadt“. Das ist falsch. Die Erklärung ist, dass Menschen in Großstädten dort per se weniger Abstand halten können und daher mehr Nähe gewohnt sind (z.B. in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf der Strasse, etc.). Menschen auf dem Land können per se mehr Abstand zueinander halten und bevorzugen dadurch dies auch. Ein extremes Bild dazu ist die U-Bahn in Tokio. Dort gibt es den Beruf des „U-Bahn-Reindrückers“ – das führt dazu, dass man in der Bahn häufig so dicht an dicht stehen muss, wie es in Deutschland unvorstellbar wäre.
Wir Deutschen fühlen uns mit einer Armlänge Abstand zu Anderen wohl. Wir schütteln Menschen, die wir nicht kennen, zur Begrüßung die Hand. Und wir achten darauf, dass uns Fremde nicht zu nahe kommen. In den letzten Jahren meine ich allerdings festgestellt zu haben, dass zunehmend eine südeuropäische Mentalität zu beobachten ist – vor allem bei der jüngeren Generation. Nämlich Umarmungen und Küsschen auch unter „nur“ Bekannten. Es wird dann in der Regel (so wie in Spanien üblich) jeweils ein Kuss auf die Wangen angedeutet (links, rechts). In der Schweiz ist es hingegen üblich sich dreimal zu küssen.
Auf Mallorca outet man sich sofort als Fremder, wenn man jemanden, der einem von Freunden vorgestellt wird nach deutscher Art begrüßen will. Es wird gerne geküsst, selbst wenn man sich mehrmals am Tag trifft. Ausser natürlich zu Corona-Zeiten – mittlerweile hat man sich daran gewöhnt, sich nicht mehr zu umarmen und zu küssen. Am Anfang fiel das aber nicht nur mir schwer.
In der Interkulturellen Kommunikation nennt man Raumverhalten „Proxemics“. Die verschiedenen Kulturen der Welt fühlen sich mit unterschiedlichen Abständen wohl. Wir Deutschen können jemanden aus Lateinamerika stark verunsichern, wenn wir uns nicht herzlich umarmen lassen wollen. Und andersherum fühlen wir uns bedrängt und genötigt, wenn uns jemand gleich in den Arm nimmt.
Nach den Studien von Richard R. Gesteland unterscheidet er Kulturen/Nationen/Mentalitäten wie folgt:
Stark expressive Kulturen: Im Mittelmeerraum, im romanischen Europa und in Lateinamerika
Relativ expressive Kulturen: USA, Kanada,Australien, Neuseeland, Osteuropa und Südasien
Reservierte Kulturen: Deutschsprachiger Raum, Ost- und Südostasien, Skandinavien, Niederlande, Großbritannien.
Wie expressiv eine Kultur ist, hat häufig auch mit Körperkontakt zu tun. Aber auch damit, wie gerne, laut und viel die menschen reden – dazu in einem anderen Kapitel bald mehr.
Bei meinen Dozententätigkeiten bespreche ich dieses Thema gerne mit meinen Studenten. An der BSBI kommen die Studenten aus aller Welt, um in Berlin zu studieren; ich unterrichte dort auf Englisch. Es ist immer hochspannend zu sehen, wie vielen Studenten die Augen geöffnet werden und sie auf einmal erkennen, dass das die Erklärung für die vermeintliche Abwehrhaltung vieler Deutscher ist. Mit diesem Wissen fällt es den Studenten dann leichter, es nicht persönlich zu nehmen, wenn Deutsche einen größeren Abstand halten.
Edward T. Hall ist der Erfinder dieses Terminus. Er unterscheidet die verschiedenen Kulturen hinsichtlich ihres Raumverständnisses. Dabei geht es (wie oben beschrieben) um Begrüßungsrituale, aber auch um Alltagssituationen. Hier das Beispiel Supermarktkasse:
– Die Briten: stehen in einer wohlsortierten Reihe. Wenn eine neue Kasse geöffnet wird, bewegt sich der hintere Teil der Schlange wie bei einem Tanz auf die neue Kasse zu. Dabei wird peinlich darauf geachtet, dass die ursprüngliche Reihenfolge eingehalten wird.
– Die Deutschen oder auch Skandinavier reagieren anders: Wird eine neue Kasse geöffnet, herrscht der Grundsatz: „First come – first serve“. Wer am schnellsten ist, gewinnt – und freut sich darüber.
Spanier halten es ähnlich wie die Briten: allerdings wird hier bei der Neuformierung zusätzlich geredet und man spricht sich ab, wer sich zuerst an der neuen Kasse anstellen darf. Das kann dann schon mal zu Verzögerungen führen, die Deutsche dann nutzen, um sich vorzudrängeln.
Mit diesem Beispiel ist auch die Dimension Individualismus / Kollektivismus verknüpft. Aus meiner eigenen Beobachtung (die ich durch diverse Literatur verifiziert habe), geht es in Deutschland auch beim In-der-Schlange-anstellen individualistischer und in Spanien kollektivistischer zu. Zum Beispiel fragt man in Spanien, wenn man in die Bank, zum Bäcker oder aufs Postamt geht: „Wer ist der/die Letzte?“. Dann braucht man sich nur diese Person merken und weiss, wann man dran ist. Das funktioniert auch mit mehreren geöffneten Schaltern. Es gibt nur eine Schlange. Mir erscheint das wesentlich gerechter. In Deutschland hingegen schätzt man ab, in welcher Schlange es wohl schneller geht. Und man glaubt an das eigene Glück, wenn man die richtige erwischt hat und an Murphys Law, wenn man eine Schnarchnase vor sich hat und es nebenan viel schneller ging.
Weltweit gibt es allerdings auch Unterschiede im Raumverhältnis zwischen Mann und Frau. Während das in Deutschland relativ gleichberechtigt jeweils auf Armlänge passiert, bleiben bei Mann-Frau-Situationen Menschen aus asiatischen Kulturen auf Distanz. In Russland übernimmt die Frau die Initiative, wie nah sich die Geschlechter kommen.
Ein anderes Beispiel ist das Aufeinanderprallen von Kulturen in der Pflege oder im Krankenhaus. Dort kommen sich Menschen zwangsläufig näher als es manchem lieb ist. Mittlerweile gibt es zu diesem Spezialgebiet schon interessante Sachbücher wie „Multikulturelle Pflege“ (Alban et al. 2000). Selbstbeherrschung und das Wahren von Contenance (von Fassung) gilt nicht – wie etwa in Deutschland – in allen Kulturen als Idealverhalten. Schwestern, Pfleger oder Ärzte werden von Patienten z.B. aus der Türkei oder Spanien gerne angefasst, um auf ihr Leid, ihre Schmerzen oder ihre Ängste hinzuweisen und so eine „Beziehung“ aufzubauen. Das ist jedoch dem Kranken- oder Pflegepersonal häufig zu nah. So kann ein Kreislauf von Missverständnisse entstehen. Die Pflegewissenschafterin Christa Hüper und die Pädagogin Rosemarie Kerkow-Weil fanden heraus, dass Pflegende die Schmerzen ihrer Patienten je nach Ethnizität unterschiedlich beurteilen. Zudem spielt auch die Sympathie eine Rolle, die in dem Maß steigt, in dem Verhaltensmerkmale bekannt und vertraut sind – bei Angehörigen des eigenen Kulturkreises also stärker ausgeprägt ist. Raumverständnis, aber in diesem Fall auch ausdrücken von Schmerzen kann einfach nur ein Hilferuf nach Unterstützung, Beistand und Trost sein. Pfleger oder Krankenpersonal können daher durch Überwinden von räumlichen Grenzen und durch Handhalten oder mit anderen Gesten schon viel bewirken.
Seine eigenen körperlichen Abwehrmechanismen zu überwinden, kann man üben. Man kann ja als „Übungsobjekte“ zunächst Bekannte und Freunde nehmen…..
P.S.: Auf dem Foto ist übrigens meine Freundin Hilla mit ihrer kubanisch-deutschen Familie zu sehen…. Sie sind stark expressiv 🙂 !