Du liebe Zeit

Kürzlich habe ich einen interessanten Text gefunden über den unterschiedlichen Umgang mit Zeit bei Spaniern und Deutschen (von dem Literaturwissenschaftler Jochen Mecke). Die späteren Aufsteh-, Arbeitsbeginn- und Essenszeiten hier in Spanien wurden darin damit erklärt, dass das Land von der geographischen Lage eigentlich die britische Zeit haben müsste, das bedeutet, dass es eigentlich eine Stunde später dran ist als der Rest Europas. Ursprünglich war dies auch so. Unter Franco wurde im Jahr 1940 jedoch die Uhr auf die zentraleuropäische Zeit umgestellt. Die Idee dahinter war, sich mit der Angleichung als Teil Europas zu erklären. Dennoch ist der alte Lebensrhythmus weitgehend geblieben, so dass hier alles ein wenig später losgeht (aber dafür auch länger läuft, wie z.B. Öffnungszeiten von Geschäften, Essen oder Ausgehen).

Ein häufig gehörtes Vorurteil über Spanier ist, dass sie faul seien. Studien belegen jedoch das Gegenteil. Zumindest wird in Spanien quantitativ länger gearbeitet. Spanische Arbeitnehmer arbeiten 1774 Stunden im Jahr, Deutsche nur 1443, das sind 300 Stunden, bzw. 37 Tage weniger.

Zum zeitlichen Rhythmus und zum Lebenstempo gibt es eine Studie von Robert Levine, in der er zeigt, dass das Lebens- und Arbeitstempo unter anderem mit dem Grad der Industrialisierung und Individualisierung, der Einwohnerzahl von Großstädten und der Kühle des Klimas zunimmt. Die Industrienationen weisen demnach das höchste Tempo auf, mit Spitzenwerten für die Schweiz, Deutschland und Japan. Für Spanien setzt Levine ein insgesamt langsameres Lebens- und Arbeitstempo an. Zu beobachten sei das im Vergleich bei Zugverspätungen und Warteschlangen in Supermärkten. Ich versuche seit Jahren, mir die Gelassenheit der einheimischen Mitmenschen anzugewöhnen, wenn ich an einer Kasse stehe – mit zunehmendem Erfolg.

Ein weiterer interessanter Aspekt ist das unterschiedliche Verständnis von den Zeitstufen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). Bei dem sogenannten Kreisdiagramm von Cottle kam heraus, dass Deutsche der Zukunft die größte Bedeutung beimessen (mit einem engen Bezug zur Vergangenheit und Gegenwart), während Spaniern fast ausschließlich die Gegenwart wichtig ist. Einige schöne praktische Beispiele zeigten sich auf einer Wanderung: Wir waren eine sehr große, international gemischte Gruppe, unter anderem auch Spanier. Während des Gehens philosophierten wir einmal wieder über die verschiedenen Kulturen. Eine deutsche Freundin sagte, dass sie immer wieder auf Unverständnis bei Heimatbesuchen stößt, wenn es um soziale Absicherung geht. Das deutsche (zukunftsgerichtete) Konzept von Versicherungen ist nicht ihres. Sie fühlt sich (wie ich auch) eher in der hiesigen Gegenwart wohl – ohne zusätzlichen finanziellen Druck, Versicherungen bezahlen zu müssen. Wir leben hier beide nur mit der obligatorischen staatlichen Krankenversicherung.

Ein anderes Beispiel auf der Wanderung war sehr dramatisch: In unserer Gruppe befand sich auch ein 80-jähriger deutscher Herr, der eigentlich sehr fit ist. Bei einem steilen Anstieg ging es ihm auf einmal sehr schlecht und er setzte sich auf einen Stein. Kurz darauf sackte er zusammen. Kreislaufzusammenbruch. Gottseidank halfen die Erste-Hilfe-Maßnahmen (Beine hoch, Wasser auf den Kopf zur Abkühlung, gut zureden, … und als er schließlich wieder bei Bewusstsein war: Trinken, Traubenzucker, wieder zu Kräften kommen). Allein diese Situation dauerte etwa eine Stunde. Da es keine andere Möglichkeit gab aus dem waldigen Gelände herauszukommen als zu Fuß (auch die Bergrettung hätte zu Fuß mit Trage kommen müssen), sind wir anschließend gaaanz langsam mit ständigen Pausen den Berg hochgezockelt. Ein Teil der Gruppe war von Beginn an vorgelaufen und wartete auf dem Paß. Als wir oben ankamen, war eine deutsche Freundin so verärgert, dass sie zunächst nicht mit auf das Gruppenfoto wollte. Denn: Ihre ganze Zeitplanung für den Nachmittag war durch die Verspätung durcheinander gekommen.

Hier noch ein Gedicht von meinem Lieblingsdichter Erich Fried:

Du liebe Zeit
Da habe ich einen gehört,
wie er seufzte: Du liebe Zeit!

Was heißt da: Du liebe Zeit?
Du unliebe Zeit, muss es heißen
Du ungeliebte Zeit
von dieser Unzeit, in der wir
leben müssen. Und doch:
Sie ist unsere einzige Zeit
Unsere Lebenszeit

Und wenn wir das Leben lieben
können wir nicht ganz lieblos
gegen diese unsere Zeit sein

Wir müssen sie ja nicht genau so
lassen, wie sie uns traf.

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