Es zeichnet sich ab, dass die Maxime “ … immer mehr, höher, schneller, weiter …“ an ihre (planetaren) Grenzen kommt. Aus meiner Sicht können wir diese Welt transformieren, wenn wir erkennen, dass wir weltweit mit allen Menschen in einem Boot sitzen. Dass Gerechtigkeit, Teilen, Unterstützung oder Hilfe uns allen zugute kommt. Wir brauchen weniger Individualismus (damit verbunden: Egoismus), sondern mehr Kollektivismus (damit verbunden: Ethnozentrismus). Dann können wir uns auf den Weg machen zu einem Kosmopolitismus oder Weltzentrismus …
Die Idee des „Ego(Ismus)“ kommt vor allem in der „westlichen Welt“ vor (Nord- und Westeuropa, Nordamerika und Ozeanien). Die meisten dieser Kulturen sind individualistisch, sogenannte „Ich-Kulturen“. Dreimal soviel Menschen leben allerdings (noch) in kollektivistischen Kulturen, den „Wir-Kulturen“ (fast alle Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas sowie Südeuropa und einige Länder Osteuropas).
Individualistische Kulturen
In diesen Kulturen geht es um die Verwirklichung des Individuums, um Selbst-Entfaltung und – Bestätigung (und um viele andere Begriffe, die mit „Selbst-“ oder „Eigen-“ beginnen). Die meisten Menschen in diesen Kulturen fühlen Verantwortung (nur) für sich selber und ihre Kern-Familie. Damit verbunden sind Verhaltensweisen wie: Leistung, Kontrolle, Konkurrenz und Misstrauen. Die positiven Aspekte von Individualismus sind: er fördert Innovation und Kreativität, da er dem/der Einzelnen die Freiheit gibt, unabhängig zu denken und zu handeln. Individuen werden ermutigt, ihre individuellen Ideen und Perspektiven auszudrücken, was zur Entwicklung von Innovationen führen kann. Studien belegen, dass individualistischere Länder ein höheres Wirtschaftswachstum aufweisen. Eine Hauptursache sei dafür die höhere Innovationskraft individualistischer Gesellschaften, die das kreative Herausstechen des Einzelnen mit höherem sozialen Status belohnen.
Kollektivistische Kulturen
In kollektivistischen Kulturen ordnet sich das Individuum in seiner Gruppe ein, sei es die Familie, der Klan, Stamm oder das ganze Dorf. Man legt Wert auf Harmonie. Soziale Beziehungen werden höher gewertet
als Leistung. Die Gemeinschaft und das „Wir“ sind wichtiger als das einzelne Individuum. In kollektivistischen Kulturen spielt die „erweiterte“ Familie eine sehr viel wichtigere Rolle als in den individualistisch-orientierten Gesellschaften. Das ist in Spanien so und wird immer wichtiger je weiter südlich oder östlich man kommt. In kollektivistischen Kulturen versteht man unter „Familie“ häufig bis zu 100 Personen, inklusive aller Großtanten und -onkel, -neffen und -nichten usw.. Familie bedeutet Verpflichtung (wie zum Beispiel die regelmäßigen Treffen am Wochenende), aber auch Solidarität und Loyalität. In kollektivistischen Gesellschaften schauen die Menschen häufig etwas verständnislos auf unser individualistisches Modell, wenn es zum Beispiel um „Abschiebung“ von Eltern in Altersheime geht.
Ubuntu
In allen Ländern Afrikas ist das soziale Umfeld überaus wichtig. Es gibt ein sehr starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und enge Familienbindungen. Das Wenige, was zur Verfügung steht, wird geteilt. „Ubuntu“ ist ein Wort aus der Zulu-Sprache, welches diese Idee wohl am besten ausdrückt. Wörtlich übersetzt heißt es etwa so viel wie: „Menschlichkeit gegenüber anderen“. Der südafrikanische Friedensnobelpreisträger und frühere Erzbischof Desmond Tutu hat den Begriff so umschrieben: „Wir glauben, dass ein Mensch nur durch andere Menschen zu einem Menschen wird. Dass meine Menschlichkeit untrennbar mit Deiner verbunden ist. (…) Ein einzelner, losgelöst lebender Mensch ist ein Widerspruch in sich selbst. Nur in der Gemeinschaft werden wir zu Menschen.“
Kollektivisches Verständnis inklusive der Natur
Extrem ist der kollektivistische Gedanke in sogenannten „Naturvölkern“, dort geht der Gedanke noch über das Verantwortungsgefühl für die Gruppe hinaus. Wie zum Beispiel im Konzept des „Buen vivir“ (Gut leben), aus indigenen Gemeinschaften in Lateinamerika. Es begründet sich auf der andinen Weltanschauung (cosmovisión). Die Zufriedenheit der Mitglieder einer Gemeinschaft sowie die Natur stehen im Mittelpunkt.
Die Perspektive des Konzeptes ist:
Erfahrungswerte, kulturelle Anerkennung und spirituelle Praktiken sind von Bedeutung .
Ablehnung von kapitalistischen Kategorien wie Moderne, Fortschritt, Wachstum und von
linearem Verständnis von Entwicklung.
Die Natur gilt als Rechtssubjekt und es bedarf somit, mit ihr in Einklang zu leben.
Der Link führt zu dem Beispiel von Nixiwaka Yawanawa, einem Vertreter einer brasilianischen Ethnie aus
dem Amazonas: We are all connected with nature (insb. ab Min. 10:00) : https://
www.youtube.com/watch?v=xk0-yebNA_o . Es geht darum, dass sich sein Volk eins mit der
Natur fühlt. Er sagt u.a.: „… but we also have this knowledge to share with the western world …“.
Wissenschaftlicher Hintergrund
Zum Hintergrund dieser „Dimension Individualismus – Kollektivismus“: Die hier angesprochene Kultur-Dimension „Individualismus – Kollektivismus“ stammt von Prof. Geert Hofstede. Er gilt als einer der anerkanntesten Forscher in der Interkulturellen Kommunikations-Forschung. Die Kulturdimensionen sind auf Nationalkulturen ausgelegt und spiegeln die Mehrheitskultur wieder. Die individualistischsten Länder der Welt sind nach Geert Hofstede: USA, Australien und Großbritannien. Deutschland liegt auf Platz 15. Die kollektivistischsten Länder sind danach: Panama, Ecuador und Guatemala.
Natürlich kann man individualistisches und kollektivistisches Verhalten jeweils in allen Kulturen und Ländern finden – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung (… und dabei häufig geschlechterspezifisch: so sind Frauen in der Regel kollektivistischer als Männer).
Die Dimension von Individualismus und Kollektivismus wird in der Regel auf Kulturen/Gesellschaften angewandt. Neuere Studien wird die von Katharina Hartinger, Sven Resnjanskij, Jens Ruhose und Simon Wiederhold (2021) untersuchen die Rolle von Individualismus auf der individuellen Ebene. Sie schreiben: „Wir finden, dass individualistischere Personen höhere kognitive Kompetenzen haben. Außerdem erwerben sie höhere Bildungsabschlüsse und nehmen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an Weiterbildungsaktivitäten im Erwachsenenalter teil. Auf dem Arbeitsmarkt verdienen individualistischere Personen zudem
Löhne und sind seltener arbeitslos. Unsere Ergebnissezeigen daher, dass Individualismus ein wichtiger persönlicher Erfolgsfaktor ist, auch wenn dieses Wertesystem negative gesamtgesellschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen kann.“
Einige Ideen, um andere Kulturen kennen zu lernen
Interkultureller Austausch im Alltag
Man muss nicht immer reisen, um andere Kulturen kennenzulernen. Internationale Feste, gemeinsames Kochen oder Sprachaustausch können Verbindungen schaffen – auch in der eigenen Stadt.
„Internationale Gärten“: in Göttingen, Dresden, Berlin, Offenbach, Rüsselsheim.
„Internationale Kochabende“: Herne, Oerlinghausen, Amberg-Sulzbach, Hannover, Dortmund.
„Interkulturelle Stadtführungen“: Augsburg, Köln, Ingelheim
„Interkulturelle Chöre„: Köln, Butzbach,
Juni: Interkulturelles Frauenfrühstück in Hamburg.
Kulturspezifische Veranstaltungen: Januar/Februar: Chinesisches Neujahrsfest; wird jedes Jahr traditionell gefeiert z.B. in Düsseldorf. März: Muslimisches Fastenbrechen besuchen, z.B. in München. Ganzjährig: Buddhistische Kultur im Tibethaus in Frankfurt.
Hier gibt es übrigens einen interreligiösen Kalender: https://hdkrm.org/interreligioeser-kalender/
Sprachtandems:
Eine tolle Möglichkeit, mit Menschen aus anderen Kulturen in Kontakt zu kommen und gleichzeitig etwas gegen Alzheimer zu tun, ist Sprachenlernen. Am besten geht es mit einem Tandem. Viele Städte haben Sprachcafés, wo sich Leute regelmäßig treffen, um Sprachen zu üben. Diese werden oft von Universitäten, Kirchen oder Kulturvereinen organisiert. Manchmal gibt es in Stadtbibliotheken oder Kulturzentren Programme für interkulturellen Austausch, bei denen man leicht einen Tandempartner finden kann. Ein klassischer, aber effektiver Weg: Aushänge an Unis, in Sprachschulen oder in internationalen Supermärkten. Manche Websites wie Kleinanzeigen.de haben auch eine Kategorie für Sprachtandems. Es gibt viele Apps und Websites, die Sprachtandems vermitteln: Tandem (tandem.net),
HelloTalk (hellotalk.com) – Funktioniert ähnlich wie WhatsApp, aber mit Sprachtools zum Korrigieren.
Speaky (speaky.com) – Plattform für kostenloses Sprachenlernen mit Muttersprachler:innen.
Oder: Suche auf Facebook nach Gruppen wie „Sprachtandem + [deine Stadt]“ oder schaue auf Meetup.com nach Sprachaustausch-Veranstaltungen in deiner Umgebung.
Ein wunderbarer Ort, um andere Kulturen kennen zu lernen ist das Vielrespektzentrum in Essen. Neben einem Café gibt es hier eine Bücherei, viele Vereine sowie Veranstaltungen: https://www.vielrespektzentrum.de
(Ich freue mich übrigens über weitere Ideen, gerne an: kathrinbremer@gmx.net)
Ausblick auf „Spiral Dynamics“
In einem nächsten Beitrag werde ich auf das Modell „Spiral Dynamics“ eingehen und die Potentiale, die darin verborgen liegen, um zu verstehen, was gerade in der Welt passiert. In jedem Fall bin ich sicher, dass wir alle glücklicher werden, wenn wir folgendes leben: „Weniger Ich – mehr Wir!“
Mehr zu dem Thema auch in einem anderen Artikel von mir in diesem Blog: https://
kathrinbremer.com/2020/07/07/weniger-ich-mehr-wir.
Die oben genannte Studie findet sich hier: https://www.ifo.de/DocDL/sd-2021-12-hartinger-etal-individualismus-arbeitsmarkterfolg.pdf
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„Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort.
Hier treffen wir uns.“ – Rumi