Die Zeit

Kulturen haben einen unterschiedlichen Umgang mit Zeit. Sowohl das Zeitempfinden, als
auch die Zeitplanung/-einteilung sowie die Orientierung in Richtung Vergangenheit,
Gegenwart oder Zukunft sind kulturell unterschiedlich. Wie für alle Artikel in diesem Blog gilt: Die hier beschriebenen Phänomene stammen aus der Forschung und gelten jeweils für die Mehrheit der beschriebenen Kultur; es kann sein, dass du liebe/r Leser:in (zeitlich) ganz anders unterwegs bist…


Zeitplanung (nach Edward T. Hall)

Wir Deutschen und viele der europäischen Kulturen haben eine sogenannte „Monochrone
Zeit-Kultur
“. Uns ist eine lineare und sehr strukturierte Zeitplanung zu eigen. In
monochronen Kulturen gilt: Eins nach dem Anderen. Deadlines und Termine sollten
eingehalten werden, Pünktlichkeit ist wichtig. Zeit ist vergänglich und wird als begrenztes Gut
betrachtet, mit dem man sparsam und effizient umgehen muss. Daher werden wir auch
ärgerlich, wenn jemand zu einem Termin zu spät kommt und uns unsere Zeit „stiehlt“, denn
„Zeit ist Geld“ (ursprünglich von B. Franklin). Menschen aus diesen Kulturen empfinden sich
als zuverlässig – auf Menschen aus der anderen Orientierung (siehe unten) wirkt dies jedoch unflexibel und starr.
In „Polychronen Kulturen“ wird Zeit weniger stark eingeteilt und geplant und oft werden
mehrere Dinge gleichzeitig erledigt. Deadlines und Termine bieten eine grobe Orientierung,
Pünktlichkeit spielt eine weniger wichtige Rolle. Zeit scheint praktisch unbegrenzt vorhanden
und wird zyklisch betrachtet. Polychrone Kulturen finden sich zumeist in kollektivistischen
Gesellschaften. Menschen aus diesen Kulturen empfinden sich als flexibel – auf Menschen aus
der monochronen Orientierung wirkt es oft chaotisch.


Zur Beschreibung des verschiedenen Zeitplanungs-Muster finden sich auch andere
Begrifflichkeiten, die jedoch im Ergebnis dasselbe aussagen: Fons Trompenaars unterscheidet
zwischen „sequenziell“ (was dem oben beschriebenen „monochronen“ Muster entspricht)
und „synchron“ (dem polychronen Muster) geprägten Verhaltensweisen. Bei Robert Lewis
finden sich die Bezeichnungen „linear-aktive“ versus „multi-aktive“ Menschen. Richard R.
Gesteland
verwendet die Termini „zeitfixierte“ versus „zeitoffene“ Kulturen.

Ereigniszeit
Manche Kulturen „messen“ die Zeit auch nicht nach unserem klassischen Verständnis von
Uhrzeit, sondern in Ereigniszeit, also wie viel Zeit ein Ereignis benötigt oder wann es
stattfindet. Z.B. in Burundi: Mehr als 80% der Einwohner sind Bauern/Bäuerinnen. Verabredungen
werden nicht für einen bestimmten Zeitpunkt getroffen, sondern nach Ereignissen: „Wir
treffen uns morgen früh, wenn die Kühe auf die Weide gehen“ oder durch bildhafte
Vergleiche: „…die Zeit, die man zum Reiskochen braucht“ – also in etwa einer Viertelstunde.


Zeitrhythmus und Lebenstempo
Zum zeitlichen Rhythmus und zum Lebenstempo gibt es eine Studie von Robert Levine, in der
er das Lebens- und Arbeitstempo in verschiedenen Ländern untersuchte („Eine Landkarte der Zeit: Wie Kulturen mit Zeit umgehen“, 1999). Zu beobachten sei das im Vergleich vom Gehtempo der Menschen, der Bedienungszeit bei der Post und durch die Genauigkeit der Uhren auf öffentlichen Plätzen. Die Industrienationen weisen demnach das höchste Tempo auf: Schweiz ist nach dieser Studie Nummer 1, gefolgt von Irland, Deutschland und Japan. Die langsamste Nation in der Studie von Levine ist bei 31 untersuchten Ländern: Mexiko. Nach anderen Studien ist es Malawi.

„Man muss der Zeit Zeit lassen“ sagt ein Sprichwort in Mexiko.
Aus Levines Experimenten ergeben sich fünf Faktoren, die das Tempo der Kulturen in den
verschiedenen Regionen der Welt bestimmen.
WOHLSTAND: Je florierender die Wirtschaft eines Ortes, desto höher sein Tempo.
DER GRAD DER INDUSTRIALISIERUNG: Je entwickelter ein Land ist, desto weniger
freie Zeit bleibt pro Tag.
EINWOHNERZAHL: Größere Städte haben ein höheres Tempo.
KLIMA: Heißere Orte haben ein langsameres Tempo.
KULTURELLE WERTE: In individualistischen Kulturen bewegt man sich schneller als in
vom Kollektivismus geprägten.

Robert Levine beschreibt zudem »Uhr-Zeit« als Gegensatz zu »Natur-Zeit« (Rhythmus von Sonne und Jahreszeiten). Und Prof. Richard Wisemann hat für sein Buch „Quirkologie“ (Fischer-Verlag) ganz gezielt die Gehgeschwindigkeiten in 32 Städten untersucht. Er fand heraus, dass die Gehgeschwindigkeit in den letzten etwa 10 Jahren um ca. 10% zugenommen hat.


Zeitorientierung (nach Kluckhohn & Strodtbeck, sowie Fons Trompenaars)
Vergangenheitsorientierte Kulturen“: Dies sind Kulturen, die sich überwiegend an der Vergangenheit orientieren und in denen die eigene Geschichte sowie Traditionen eine sehr wichtige Rolle spielen. Älteren Menschen wird hoher Respekt entgegengebracht und sie werden häufig um ihre Meinung
gebeten. China und Japan sind die klassischsten Beispiele.
Gegenwartsorientierte Kulturen“: Man lebt vor allem im „Hier und Jetzt“ und interessiert sich weder groß für die Vergangenheit noch für Zukünftiges. Geniessen spielt eine große Rolle. Beispiele: Südeuropa, Afrika, Asien und Lateinamerika. Wir (zukunfts-orientierten) Deutschen genießen es, im Urlaub in Spanien oder Italien uns deren Kultur anzupassen – im Alltag und bei einer Zusammenarbeit gefällt uns das allerdings weniger.
Zukunftsorientierte Kulturen“: Zukunftsorientierte Kulturen haben eine Vision von einer immer (noch) besseren Zukunft und „opfern“ dafür die Gegenwart. Die meisten individualistischen Kulturen sind zukunftsorientiert. Nach einer Studie von Donald Cottle bemessen wir Deutschen der Zukunft die größte Bedeutung bei. Das äußert sich darin, dass wir Weltmeister im Versicherungen-Abschließen sind oder dass wir für diverse Produkte ein TÜV-Zertifikat haben, welches die Langlebigkeit garantiert.

In der Welt der australischen Ureinwohner:innen spielt die „Traumzeit“ eine zentrale Rolle. Hierbei geht es um die universale, zeit- und raumlose Welt, aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmen. Sie verbindet die Welt der Lebenden mit der der Ahnen.

Zeit und Stress

Studien aus der Gesundheitsforschung besagen u.a.:

  • Oft wird Zeitdruck als Hauptursache für Stress im Alltag empfunden.
  • Zeitdruck aktiviert den Hypothalamus im Gehirn, was zu einer Ausschüttung von Stresshormonen führt, wie zum Beispiel Adrenalin und Cortisol.
  • Fast sechs von zehn Deutschen empfinden ihr Leben als stressig, Frauen sind dabei deutlich
    mehr betroffen als Männer (Umfrage der Techniker Krankenkasse).
  • Ein höheres Lebenstempo steht im Verhältnis zu Todesfällen durch Herzerkrankungen
  • Zahlreiche Studien belegen, dass Stress viele unterschiedliche Krankheiten begünstigen
    kann (praxisvita.de)

Was können wir daraus lernen?

Verbindet man all diese oben genannten Studien miteinander, können wir (von anderen Kulturen) lernen:
Ein langsameres Tempo und weniger Zukunftsorientierung ist gesünder!


Manche/r mag nun sagen: “Das ist unrealistisch; das geht nicht oder: Ich habe dafür keine Zeit!” – Ich habe mal ChatGPT gefragt, was eine gute Antwort darauf wäre: „Zeit haben wir nie – wir müssen sie uns nehmen. Denn wenn du für dich und dein Glück keine Zeit findest, wird dein Körper oder dein Kopf sie sich irgendwann selbst holen – und dann oft nicht zu einem günstigen Zeitpunkt.“

Glückszeit: Für mich ist Glück, Zeit mit meinen Freund:innen zu haben (siehe Foto 🙂 )


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